Sonntag, 20. Oktober 2013

Back to business as usual: Lothringer Kreuze auch in Lothringen gesichtet



Während im letzten Beitrag zu Album 16 die "Lothringer Kreuze" auf der südwestpfälzischen Seite der deutsch-französischen Grenze vorgestellt wurden, kommen jetzt einige auf der lothringischen Seite zu ihrem Recht.


25. Das erste befindet sich in Walschbronn und ist zwar vom Standort her ein Lothringer Kreuz, aber nicht vom Typus her. Eigentlich ist es "nur" ein Fragment, aber ein besonders beeindruckendes. Walschbronn hat heute nur wenig mehr als 500 Einwohner, war aber im Mittelalter ein bedeutender Badeort. Leider ist nicht näher bezeichnet, wo das Corpusfragment hängt. Möglicherweise an der Dorfkirche?


26. Ein sehr schönes Lothringer Kreuz auf dem Friedhof in Walschbronn


27. Eine etwas einfachere Version neueren Datums, ebenfalls in Walschbronn. Inschrift: 
Errichtet zur Ehre Gottes
durch die Eheleute 
Oscar RETHER
Lina DURTHALER


28. Dieses liebevoll gepflegte Kreuz steht in Waldhouse, einer Gemeinde mit ca 390 Einwohnern.


29. Ein ganz besonders schönes und reich geschmücktes Exemplar vom Typus Lothringer Kreuz in Bousseviller.  Erstaunlicherweise ist darüber nichts Näheres in Erfahrung zu bringen. Der Stamm trägt ganz oben evtl Gottvater und unter dem Korpus evtl. ein Halbrelief des hl. Geistes in Gestalt einer Taube und außerdem die Leidenswerkzeuge. Auf dem Sockel stehen drei weibliche Figuren, von denen die mittlere eine weinende Frau, vermutlich die Gottesmutter darstellt, die wie häufig bei den Lothringer Kreuzen auf einem "Kissen" aus kleinen Wölkchen kniet. Ich nehme an, daran erkennt man die Heiligen. Die beiden anderen kann ich nicht identifizieren. Ganz unten sind zwei weitere Figuren im Halbrelief zu erkennen, möglicherweise die Stifter. Drauf bezieht sich wohl auch die Inschrift, die die Namen Johannes und Barbara nennt



30. Auch dieses Kreuz steht in Waldhouse. Ich bin nicht sicher, ob Sockel und Kreuz zusammengehören.


31a) Ähnliches gilt für dieses Lothringer Kreuz, ebenfalls in Waldhouse. Entweder gehören Sockel und Kreuz nicht zusammen oder einer der beiden Teile ist kürzlich renoviert worden und der andere nicht. Das Gesicht des Heilands scheint beschädigt oder zerstört zu sein.


31b) Dieses schöne Kreuz steht in Hanviller. Leider konnte ich darüber nichts weiter finden. In Lothringen scheint man die Kleindenkmale noch nicht so oft zu dokumentieren, zu fotografieren oder zu erwähnen, wie das diesseits der Grenze der Fall ist.

Donnerstag, 17. Oktober 2013

Engel III oder "Ein Mensch ohne Macke ist Kacke!" oder "Jeder"? - #BAD13



Ich bin spät dran. Heute ist der 16. Oktober und, wie ich zufällig dank Claudia Sperlich erfahren habe, Blog Action Day. Thema: Die Menschenrechte. Unseren kleinen Familien - und Kreuzweg - Blog habe ich dafür registriert, ohne daran zu denken, dass ich an diesem Tag arbeiten darf - wie es einem der Menschenrechte entspricht - und dass es spät wird, bis ich nach Hause komme. Aber noch dauert diese Aktion an. Und ich will einige Menschenrechte kommentieren und besprechen, über die ich in letzter Zeit aus gegebenem Anlass viel nachgedacht habe.

Jetzt muss ich etwas weiter ausholen. Ich arbeite in einer Einrichtung, die das Leben und Arbeiten von Menschen mit einer sogenannten geistigen Behinderung fördert. Aber auch als Kinder sind wir alle immer mal wieder mit diesem Thema in Berührung gekommen, denn unsere Tante war eine Nonne vom Orden der "Schwestern vom Armen Kind Jesus". Sie war Sonderschullehrerin in einem Kinderheim, in dem etliche Kinder mit Behinderung aufwuchsen. Einige blieben dort und arbeiteten noch lange Jahre für die Landwirtschaft des Heimes. Weil unser Vater später selbst dort tätig war, noch später auch ich, wuchsen wir hinein in den ganz selbstverständlichen Umgang mit jungen und älteren Menschen, die eben nicht wie "Jeder" waren.

Mir ist aufgefallen, dass "Jeder" ein Wort ist, dass in allen 30 Artikeln der Menschenrechtserklärung vorkommt!

An allen Artikeln könnte man etwas "herumnörgeln", wenn man mit Behinderten arbeitet, denn obwohl es sich um Menschen handelt, treffen diese Formulierungen oft einfach nicht zu.

Ein paar Beispiele aus meinen Erfahrungen:

Ein junges Paar aus meinem beruflichen Umfeld, beide mit geistiger Behinderung, erwartete ein Kind. Sie freuten sich sehr darüber. Die junge Frau wies den Gedanken an eine Abtreibung weit von sich, und wir unterstützten die beiden, so gut wir konnten. Sie wurden in allen Belangen, bis hin zum Beistand bei der Geburt des Babys, gemäß ihren Wünschen begleitet.
 An einem Abend im Freundeskreis erzählte ich davon. Dabei war ich mir der Problematik bewusst, aber auch der großen Hoffnung und Freude, die im wahrsten Sinn des Wortes "heranwuchs"!
Kommentar von einem der kopfschüttelnden Bekannten: "Sowas g'hört weg!"

Artikel 3

Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

Artikel 16.3

Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.





Kürzlich saß ich mit ein paar Leuten aus meiner, na, nennen wir es mal "erweiterten Familie" beisammen. Sie wohnen in einer paradiesischen Umgebung mit wundervollen alten Gebäuden und betrieben bis vor nicht allzu langer Zeit eine Galerie. In ihren Häusern und Zimmern hängen zahlreiche Gemälde und sonstige Kunstwerke, die sie für sich selbst erworben hatten. Einige davon gefallen mir ganz ausgesprochen gut, andere wieder nicht, aber das ist ja wohl normal. Ich brachte das Gespräch auf die Kunstwerke und die ehemalige Galerie und erzählte von der "Malwerkstatt" unserer Einrichtung. Die begeistert mich immer wieder. Wann immer ich kann, begleite ich einige behinderte Künstler dorthin und male selber ein wenig - ohne dabei "Kunst" zustande zu bringen - beobachte die Leute bei ihrer selbstvergessenen hingebungsvollen Arbeit und freue mich einfach. Fast jede Ausstellung besuche ich und habe mir schon manches Kunstwerk gekauft.
Ja, also ich erzählte davon und bedauerte, dass die Galerie nicht mehr existiert, denn sonst, meinte ich, könnte man ja eine Ausstellung mit den Werken unserer behinderten Künstler dort organisieren. Der ehemalige Galerist schüttelte schon den Kopf, während ich noch redete.

Nein, das kann man nicht, das würde er niemals tun. 

Ja, warum denn nicht? das sind wirklich tolle Werke, und der Leiter der Malwerkstatt ist selbst ein  Künstler! Der unterrichtet an einer Kunsthochschule und hat ein Atelier und ...

Da gibt es einen ganz einfachen Grund. Kein Künstler, der auf sich hält, würde jemals wieder in einer Galerie ausstellen, die sowas gezeigt hat. Deshalb wird kein ernst zu nehmender Galerist so etwas machen. da verdirbt er sich das Geschäft.




Artikel 27.1

Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.



Ein letztes Beispiel:
 In unserem kleinen Wohnheim lebt ein Mann mit sogenannter geistiger Behinderung. Ich würde eher sagen, er hat eine Lernschwäche. Er wohnt in einer Wohngemeinschaft der Eingliederungshilfe, ohne Nachtdienst, und er hat keine Pflegestufe. Verwandte von ihm sind seine gesetzlichen Betreuer. Er hat Betreuung in allen Bereichen, also Aufenthalt, Gesundheit, Behördenangelegenheiten, Vermögen, Post. 

Er ist gläubiger Christ. Er liebt seine Verwandten. Jeden Tag verabschiedet er sich mit einem "Gott segne Dich" von mir. Er gibt sich Mühe, seine geringen Lese - und Schreib - Fähigkeiten zu erhalten. Täglich geht er zur Arbeit - oder eher nächtlich, er arbeitet in unserer Demeter - Bäckerei. Weil er etwas lernen möchte, besucht er in seiner Freizeit die Neigungsgruppe "rechnen, messen, wiegen" und nimmt an einer Tanz - AG teil. Er hat früher bei den Eltern gelebt, seit er bei uns ist, hat er gelernt, selbständig mit dem Bus und dem Zug zu fahren und sich in den nächstgelegenen Städten zurecht zu finden. Er übt fleißig und voller Stolz, mit dem Giro - Konto umzugehen, das wir ihm eingerichtet haben, und spart Geld um sich seine Wünsche - Reisen, mal einige DVDs oder CDs, Blumen und Pflanzen - erfüllen zu können. 
Dieser Mann hat kein Wahlrecht! Ein Antrag seiner Betreuer könnte dafür sorgen, dass er es bekommt. Er ist der Einzige in unserer kleinen Einrichtung in dieser Situation - obwohl es noch mehr Leute mit solch umfassender Betreuung gibt. Bei den letzten Gemeinderatswahlen erst ist das aufgefallen. 


Wir dachten damals, es liege ein Missverständnis vor, als er keine Wahlbenachrichtigung bekam, und erklärten ihm, das mache ja nichts, er könne einfach seinen Personalausweis vorlegen. Aber er stand nicht im Wähler - Verzeichnis. Noch immer glaubten wir an irgendeinen Fehler. Also riefen wir seine Verwandten und gesetzlichen Betreuer an. Es stellte sich tatsächlich heraus, dass sie das nicht möchten und als nicht sinnvoll ansehen. Für unseren Betreuten war die Situation schlimm. Er konnte nicht verstehen warum er nicht wählen darf - und als er verstand, dass seine geliebte Familie es nicht möchte, war es noch ärger für ihn. Wir Betreuer machten uns kundig und erfuhren, dass ein einfacher Antrag, unterschrieben von ihm selbst (er kann eine Unterschrift leisten), ihm die Wahlberechtigung verschaffen könnte. Aber er lehnte unseren Vorschlag und unser Hilfeangebot ab, weil er die Familie nicht verärgern wollte. Sie sind ihm soo lieb und wichtig!!!! 

Inzwischen ist er zum Bewohnerbeirat gewählt worden - er, der in unserer Gesellschaft nicht wählen darf. Seine Mitbewohner finden ihn geeignet dafür und trauen ihm zu, für sie zu sprechen. Ich habe seine Betreuer noch einmal angerufen und gebeten, sich das doch noch mal zu überlegen. Sie reagierten freundlich - ablehnend, immerhin wollen sie es sich aber bis zu den nächsten anstehenden Wahlen nochmals überlegen.



Artikel 21

1.Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.

2.Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande.

3.Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muß durch regelmäßige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.



JEDER?



Die Bilder stammen aus der Ausstellung "Voll Konzentriert" unserer Malwerkstatt.


Montag, 14. Oktober 2013

Der erste Stein

Das letzte Wochenende verbrachte ich mit Freundinnen aus dem Studium an Main und Tauber. Da bekamen wir einiges an Protz und Prunk kirchlicher und weltlicher Art zu sehen. Kein Wunder, denn außer unsere jahrzehnetalte Freundschaft, die liebliche Landschaft, gutes Essen und guten Wein zu genießen, hatte unsere Reise genau diesen Zweck. Leider spielte das Wetter nicht so recht mit, aber trotzdem haben wir Prunk und Protz weidlich genossen.

Schloss Weikersheim

im Schlosspark Weikersheim
Zwölf-Apostel-Altar in St. Jakobus, Rothenburg ob der Tauber

Bürgerhaus in Miltenberg

Hotel zum Riesen, Miltenberg


Deutschordenschloss Bad Mergentheim
ganz besonders "protzig": Treppenspindel im Deutschordenschloss

Es mag manches zu beanstanden geben an der Entwicklung des Deutschen Ordens nach seinen Anfängen. Die Beanstandungen sind v.a. geistlicher Natur. Die oben gezeigte Treppenspindel vermag ich nicht zu bedauern, auch wenn sie sicher einiges gekostet hat. Hoffentlich, denn der Baumeister hat es verdient. Und wer sonst außer weltlicher oder kirchlicher Macht hätte ihm einen solchen Auftrag und die Gelegenheit geben können, seine Meisterschaft und Kunstfertigkeit zu zeigen und der Nachwelt über Jahrhunderte zu überliefern? All die Touristen, die sich durch das Taubertal und andere Gegenden in Deutschland und anderswo wälzen, hätten kaum etwas zu besichtigen, wenn kirchliche und weltliche Mächte nicht in Kunst und Architektur investiert hätten. Ich finde die Bauwerke in Limburg im Vergleich zu dem, was ich an diesem Wochenende gesehen habe, nicht besonders ansprechend. Der moderne Architekturgeschmack, dem ich in v.a. seiner öffentlichen Form, wie er sich z.B in Berlin geriert, oft nicht allzuviel abgewinnen kann, scheint das anders zu sehen. Seis drum. Ein wohltuende  Stimme von säkularer Seite rückte das heute ein wenig zurecht. Wollte Gott, dass etwas Ähnliches auch aus dem Inneren der Kirche käme.

Sonntag, 13. Oktober 2013

Petrus, der erste Bischof

Lügen sei bei Bischöfen gewissermaßen Tradition, sagte heute Abend sinngemäß eine Journalistin während einer Talkshow in der ARD. Bereits der erste in der Reihe der Bischöfe, nämlich Petrus, habe ja Jesus Christus dreimal verleugnet.

Nachdem ich eine Zeit lang darüber nachgedacht habe, finde ich, dass der Vergleich nicht allzu sehr hinkt. Lügen und Verleugnungen können in einer Atmosphäre des Hasses, der Hetze, des "Nach - Tretens" und der Verfolgung natürlich besonders leicht entstehen. Man muss sich mal vorstellen, was für eine Angst Petrus gehabt haben muss. Er hatte den Hass und die Gemeinheit gespürt, die sich gegen Jesus richtete, und gegen alle, die ihm folgten.
 Jesus hat ihm trotzdem vergeben und ihn nicht der Verzweiflung überlassen.
( Ich kann Petrus verstehen. Ich hätte ganz gewiss keine Folter ertragen.)
Das Gemälde von Michelangelo zeigt, wie es ihm später erging. Es spiegelt die Grausamkeit, die er ansehen und selber spüren musste und die ihn eine Weile den Mut verlieren ließ. Ja, einige sind "beschäftigt", andere sehen in eine andere Richtung, manche unterhalten sich angeregt, viele wirken interessiert. Die Wenigsten scheinen entsetzt zu sein.

War das eine Zeit!






Dienstag, 1. Oktober 2013

Engel II

Bei meinem Stöbern über Engel und meiner Suche nach ihnen stieß ich auf die Engel - Bilder von Paul Klee. Sehr angerührt haben mich auch hier die Bilder von Kindern, die das Thema im Kunstunterricht behandelt haben. Interessante Texte und Interpretationen dieser Bilder sind von den Kindern dazu geschrieben worden - kann man alles hier nachlesen.
Um diesen Engel geht es:

Vergesslicher Engel, 1939
Auch das ist einer der Engel mit "müden Mündern", von denen Rilke in seinem Gedicht schreibt (siehe voriger Blogpost). Und doch - wenn man die Texte auf der Website des Kunstunterrichtes mit der Unterstufe vom Polgargym in Wien liest, ist man überrascht und froh, wie viel die Kinder in diesem Bild entdecken.
Eine der Kinderzeichnungen ist diese:



Von den Bildinterpretationen, die - nicht eindeutig zugeordnet neben den Zeichnungen stehen - scheint mir die folgende am Besten zu passen:

"Von diesem Engel ist gerade die Großmutter gestorben, bei der er sein ganzen Leben bis jetzt verbracht hat, denn seine Eltern haben ihn, als er 2 Monate alt war im Stich gelassen. Deswegen war er umso trauriger, dass sie gestorben ist. In diesem Engel gehen Gefühle herum, die man nicht so gerne erleben möchte. In diesem Moment betet er zu unserem Vater, Gott. Er hat seine Arme verschränkt, damit er sich zusammenreißen kann. Sein Lächeln ist nicht, weil er froh ist, dass sie tot ist, sondern weil er weiß, dass sie für ihn immer in seinem herzen weiterleben wird. Seine Flügel sind aufrecht, weil er weiß, sie denkt nur an ihn und sie war und ist immer stolz auf ihn, solange er keine Sünden macht, niemandem etwas antut, nicht tötet und immer betet. Sein Körper ist ebenfalls aufrecht, weil seine Oma ihm das so beigebracht hat. Trotzdem ist er traurig, aber er denkt positiv, seine Oma wird für ihn nie sterben. Julia"

Sehr tief hat mich diese Betrachtung gerade heute berührt. Vor 8 Jahren lag unsere sterbenskranke Mama - und gute liebevolle Oma meiner Tochter - im Krankenhaus. Sie war wegen starker Schmerzen im Rücken und in der Lendengegend eingeliefert worden, mehrere Osteoporose - Brüche hatte man festgestellt und sie musste tagelang streng liegen. Dann wurden eines Nachts ihre Schmerzen entsetzlich und es stellte sich heraus, dass sie einen Herzinfarkt hatte und dass ein vorangegangener Infarkt die eigentliche Ursache für ihre Beschwerden war. Ich erinnere mich - es war ein Samstag. Zunächst hatte der junge behandelnde Arzt gesagt, es müsse eine Katheder - Untersuchung gemacht werden, das könne aber an diesem Tag nicht stattfinden. Wir Töchter fürchteten aber jede Verzögerung, denn der nächste Tag war ja ein Sonntag und darauf folgte der Feiertag, der "Tag der Deutschen Einheit". Letztendlich konnten wir erreichen, dass die Untersuchung doch gemacht  und die Notwendigkeit einer Herzklappen - OP festgestellt wurde. Bei aller Angst vor der Operation stimmte unsere Mutter dieser dann zu, weil sie unseren Vater möglichst "nicht alleine lassen" wollte. Und ihre größte Sorge war: "Jetzt hat er keinen schönen Geburtstag!" (Dieser war am dritten Oktober!)

Als sie in dem furchtbaren Schmerz, den so ein Infarkt wohl hervorruft, halb bewusstlos war, hatte sie eine Art Traum, den sie uns erzählte. Sie sah einen Mann in einem Mantel, der schrie und Kommandos gab. Auf seinem Bauch hatte er einen Monitor. Sie wusste, wenn die Knöpfe an diesem Monitor gedrückt werden, "dann ist es vorbei".

Später erklärten wir uns das so: Der Mann im Mantel war der Arzt. Die Kommandos betrafen die Notfall - Maßnahmen, und der Monitor war angeschlossen an all die Kabel, die ihr EKG maßen. Aber als sie uns das erzählte, schien es uns wie eine schreckliche Vision. Und auch wie eine Erinnerung, an ihre Kindheit und an die Erlebnisse im Dritten Reich.

Auch dazu habe ich einen Engel von Paul Klee gefunden.

Angelus Novus, 1920

Ein Mann im Mantel, nicht mit einem müden, sondern einem schrecklichen Mund, mit starrendem Blick. Mit befehlshaberischer Haltung. Etwas Seltsames, Eckiges in der Brust. So sehe ich ihn - wie Mamas Alptraum, an den sie sich nach ihrer Operation glücklicherweise nicht mehr erinnert hat.

Zum Angelus Novus gibt es eine Beschreibung von Walter Benjamin, Dieser Philosoph und Literaturkritiker hat in einem Text "über den Begriff der Geschichte" Folgendes dazu geschrieben:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

"Das, was wir den Fortschritt nennen, das ist dieser Sturm" ....

Da habe ich, haben wir noch viel Stoff zum Nachdenken. Danke, liebe Eltern! Ihr sorgt weiterhin dafür. Wie die kleine Julia schon sagt!